Meeresrauschen

Du bist kein Tropfen im Ozean.

Du bist ein gesamter Ozean in einem Tropfen.

Rumi

Wellen

Energie bewegt sich in Wellen,

Wellen bewegen sich in Mustern.

Ein menschlicher Körper ist genau das:

Energie, Wellen, Muster, Rhythmen.

Nicht mehr und nicht weniger. Ein Tanz.

 

Gabrielle Roth

Schlangenbaum

 

 

 

 

Bäume sind Heiligtümer.  Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiß, der erfährt die Wahrheit.  Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das Einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens.

Hermann Hesse

Elefantenfriedhof

Der Stamm ist hohl, die Rinde durchlöchert.

Vielmals kann man den Arm durchs zerwirkte Gebilde tun.

Tausend Tode ist er gestorben und tausendmal

wieder zum Leben erwacht, der große Geduldige.

Er ist nichts einzelnes mehr, sondern ein Vieles,

ein Zopfwerk und Flechtwerk von Strängen

und quellenden Wachstumszügen. Alt, uralt.

 

Ich lege die Hand an das warm durchsonnte, graue

Gestein seines Holzes. Großer, alter Freund.

 

Erhart Kästner

Impressionen in Monets Garten II

 

 

Diese Farben hätte ich früher niemals im Süden erwartet.

Ich glaubte immer, sie müßten dort satter und stärker sein in heftiger Pracht.

Aber sieh, sie sind seliger, leichter, mit Licht gemischt, wie vom Regenbogen

selber entlehnt, vom Himmel und nicht von der Erde.

Sie sind helleren Klangs, wie oberer Diskant, Flöten- und Harfenmusik, von weither geweht.

Sie sind wie silbriger Atem, von Genien gehaucht.

 

Erhart Kästner

 

Himmel über Paris

Himmel

 

So hätte man anfangen sollen: Himmel.
Ein Fenster ohne Brett, ohne Rahmen, ohne Glas.
Eine Öffnung und sonst nichts, doch weit offen.
Ich muss nicht auf die klare Nacht warten, muß nicht den Kopf heben,
um den Himmel zu betrachten.
Himmel hab ich im Rücken, zur Hand
und auf den Lidern.
Himmel umhüllt mich
und hebt mich vom Boden.
Selbst höchste Berge
sind dem Himmel nicht näher
als tiefste Täler.
Nirgendwo gibt es mehr von ihm
als anderswo.
Himmel erdrückt die Wolke
so schonungslos wie das Grab.
Der Maulwurf ist genauso himmelfahrend
wie die Flügel schlagende Eule.
Was in den Abgrund fällt,
fällt von Himmel zu Himmel.
Schüttere, fliessende, felsige,
feurige und flügge
Himmelsstriche, Himmelskrumen,
Himmelshauch und Himmelshäufung.
Himmel ist allüberall,
selbst im Dunkeln unter der Haut.
Ich verspeise Himmel, scheide Himmel
aus.
Ich bin die Falle der Falle,
ein bewohnter Bewohner,
eine umarmte Umarmung,
eine Frage als Antwort auf eine Frage.
Die Aufteilung in Himmel und Erde
ist nicht die richtige Art,
das Ganze zu begreifen.
Sie ermöglicht lediglich zu überleben,
unter genauerer Anschrift
schneller gefunden zu werden,
falls ich gesucht werden sollte.
Meine besonderen Kennzeichen sind:
Ich begeistere mich und verzweifle.

Wislawa Szymborska

Bäumchen im Sonnenfleck

Ich harre, mich umkreist die Zeit

mein Schlaf ist Träumen,

mein Träumen Sinnen,

mein Sinnen Walten des Wissens.

 

Richard Wagner

Behütet

Gestutzte Eiche

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!

Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!

Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht.

Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ins Licht.

Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,

Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,

Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,

Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.

Hermann Hesse, 1919

Mohnblüte

. . . Aber in größter Stille

ruft der flammende Mohn

seine Gegenwart aus. Es ist,

als lebe er zu schnell, als

daß sich das Grau in seinen

Poren bergen dürfte. Heute

bin ich hier, morgen bin ich

nicht mehr, so spricht sein

rotes Schweigen.

 

       Wilhelm Lehmann

Wie eine Pusteblume…

Entdeckung an der jungen Frau

Des Morgens nüchterner Abschied, eine Frau
Kühl zwischen Tür und Angel, kühl besehn.
Da sah ich: eine Strähn in ihrem Haar war grau
Ich konnt mich nicht entschließen mehr zu gehn.

Stumm lehnt ich an ihe Brust, und als sie fragte
Warum ich Nachtgast nach Verlauf der Nacht
Nicht gehen wolle, denn so war´s gedacht
Sah ich sie unumwunden an und sagte:

Ist´s nur noch eine Nacht, will ich noch bleiben
Doch nütze deine Zeit; das ist das Schlimme
Daß du so zwischen Tür und Angel stehst.

Und laß uns die Gespräche tiefer, bedachtsamer treiben
Denn wir vergaßen ganz, daß wir vergehen.
Und es verschlug Begierde uns die Stimme.

Nach Berthold Brecht

Frühlingsweiden

 

Dich kenne ich, dich lieb ich,

dich sah ich wachsen,

Holz.

Darum,

so ich dich anrühre,

antwortest du

wie ein geliebter Leib,

du weisest mir

deine Augen und deine Fasern,

deine Knorren, deine Male, deine Adern,

die reglosen Flüssen gleichen.

ich weiß,

was sie

singen

mit Windes Stimme,

ich lausch der stürmenden Nacht . . .

            Pablo Neruda

Für Katharina

Dünnbesiedelt das Land.
Trotz riesigen Feldern und Maschinen
Liegen die Dörfer schläfrig
In Buchsbaumgärten; die Katzen
Trifft selten ein Steinwurf.

Im August fallen die Sterne
Im September bläst man die Jagd an.
Noch fliegt die Graugans, spaziert der Storch
Durch unvergiftete Wiesen. Ach, die Wolken
Als Berge fliegen sie über die Wälder.

Wenn man hier keine Zeitung hält
Ist die Welt in Ordnung:
In Pflaumenmuskesseln
Spiegelt sich schön das eigne Gesicht und
Feuerrot leuchten die Felder.

Sarah Kirsch